MULTI MEDEA EXTRAGÖDIE
Eigene Produktion, Theater für Erwachsene
frei nach Euripides „Medea“ - Idee und Leitung: Katrin Heinau
Im Justizpalast der Stadt wird der Fall der Medea von Kolchis wieder verhandelt. Auf der Straße sind viele Unterstützerinnen, die ihre Ausweisung verhindern wollen.
Wer sind die, die über sie urteilen? Und verstehen die, die Medea verteidigen, ihre archaische Rache?
Physisches Chorstück über einen antiken Sagenstoff – ohne Helden, mit säkularen Göttern und eventuellen Heimkehrern.
Bericht aus der Arbeit
Als wir im August 2019 in die Proben starteten, genossen wir eine workshopartige Situation, die uns beglückte. Gegenseitig brachten wir uns Körpertechniken, Methoden und Künste bei, die für die Umsetzung „unserer“ Medea infrage kämen. Es würde eine körperliche Medea-Produktion werden, mit dem Körper der Gruppe, des Chors versus die Wortmacht des individuellen Helden. Der/die Einzelne – sind sie nicht auch die Ausgestoßenen der Gemeinschaft? Und der Chor, kann man sich auf ihn – auf die Menge, in der Demokratie: auf den Souverän – im Ernstfall verlassen? Lamentiert doch der Chor am Ende bloß, anstatt den Mord zu verhindern.
Wir entdeckten die matriarchale Medea und die patriarchale Medea. In der titelgebenden Heldin wurde der antike Theaterbesucher wohl erstmalig mit der Lage der Frau in der attischen Demokratie konfrontiert, insbesondere mit ihrer rechtlichen Situation. Medea sinnt auf Rache, weil ihr Unrecht widerfährt. Euripides lässt außerdem – ein Novum – der weiblichen Eifersucht ebenso wie der Liebesleidenschaft den nötigen Raum, er erfindet zur Steigerung sogar den Kindermord hinzu, die Sage kannte dies nicht. Der Autor lässt zwar auch Jason, die Identifikationsfigur des ausschließlich männlichen Publikums, wohlgesetzt reden; Jason trägt die Argumente eines „Neoliberalen“ vor, eines aalglatten Aufsteigers, der es angeblich nur gut mit seiner Familie meint, nach dem Motto: der Zweck heiligt die Mittel. Angesichts seines Ehebruchs, des Verrats an der Familie, angesichts Medeas früherer Wohltaten für Jason, für die Argonauten und damit für ganz Griechenland werden die Zuschauer bei den Vorwürfen und Ausbrüchen der Medea wohl nachdenklich geworden sein. Die „Barbarin“ verteidigt sich mit Moral, Würde und Leidenschaft, beruft sich sogar auf die Götter!
Patriarchal ist die Medea des Euripides dort, wo sie eine Rache wählt, die sich gegen sie selbst richtet. Die neue Braut des Ehemanns zu töten, wie grausam auch immer, und den König, ihren Vater dazu, weil er seinen neuen Schwiegersohn deckt und Medea und ihre Kinder prophylaktisch des Landes verweisen will: diese Morde erschienen uns – sagen wir – tragödiengemäß. Doch Jason höchstmöglich zu strafen, indem man als Mutter die gemeinsamen Kinder umbringt? Das fanden wir masochistisch. In der deutschen Kulturgeschichte gilt Medea als Monster. Doch welche Möglichkeiten hat die patriarchale Heldin (die Heldin im Patriarchat) überhaupt, sich zu wehren?
Der Mann Jason ist schwer getroffen, denn der Tod der Kinder (es sind Söhne) macht seinen Erfolgsplan zunichte. Auf der Erbfolge beruht seine Macht, durch Vermehrung des Eigentums und Reichtums. Etwas Vergleichbares hat die rechtlose Medea nicht zu verlieren. Sie wird nach der Befriedigung ihrer Rachelust in einem neuen Exil ihre Geschichte wiederholen, so erzählt es die Sage. Das ist aber nicht mehr Gegenstand von Euripides‘ Tragödie.
Später fanden wir: auch der Mord an der neuen Braut, einer jungen Frau, ist ganz im Sinne der patriarchalen Konkurrenz unter Frauen. Wie, wenn die beiden Frauen stattdessen Freundinnen würden?
Unsere chorischen Szenen erlaubten es, den Text stark einzukürzen. Bewegung wurde handlungstragend, und damit entstand nach und nach die Möglichkeit zum Einspruch, dem Angelpunkt „unserer“ Medea. Peripetie, Katastrophe – machen wir da mit, wir, der Chor, der sich aus seinen Fesseln befreit?
Niemand war Medea, niemand war Jason – oder alle. Wir schlüpften in wechselnde Rollen, auch die des Königs und der Braut, und erfanden ihre aktuelle Übersetzung. Wir steuerten die Funktionen von Szenen der Dramaturgie bewusst durch anderswirkende Elemente. So hoben wir allmählich die Bruchstücke einer matriarchalen Medea aus den Trümmern der Geschichte.
Wir entschieden uns für folgende freie Erzählung: Medeas Fall wird neu verhandelt, in der Gegenwart einer Stadt, die Berlin sein kann. Medeas Fall, das bedeutet: eine Frau wird verdächtigt, sie sei fähig, grausam zu morden, weil sie schimpft und flucht, und man hat sie dabei gehört. Sie ist ohnehin schon verdächtig – eine Ausländerin, eine Geflohene mit schlechtem Ruf – , soll am besten verschwinden, denn ihr Mann plant prestigeträchtig, die Tochter des höchsten Repräsentanten zu ehelichen und sich der früheren Angetrauten zu entledigen, der somit die Ausweisung droht. Die Kinder möchte Jason aber behalten und „Stamm mit Stamm vereinen“.
Unser Stück geht so: Der Chor besetzt den Platz in der Nähe des Justizgebäudes. Der Chor, das sind Demonstrantinnen, die für das Aufenthaltsrechts dieser Medea, für die Anerkennung ihrer Rechte und ihrer Ehe (damit auch der Unterhaltspflicht) und für die Anerkennung ihrer heilkundlichen Fähigkeiten kämpfen. Medea selbst erscheint nie. Es ist der Chor, der ihre flammenden Reden vorträgt oder in Bewegung zur Handlung bringt. Der Chor stellt auch die Brücke zum Publikum dar, das über Medeas Fall abstimmen soll. Im Inneren des Justizgebäudes, in einer langweiligen Amtsstube befinden sich die „Götter“, Entscheidungsträger, Bürokraten. Sie spielen ein kokettes Gesellschaftsspiel zum Zeitvertrieb oder zur Betriebsfeier – Wer bin ich? Heute sind sie die Götter Griechenlands, Hera, Aphrodite, Dionysos und Ares.
Es ist unsere Obrigkeit. Es sind die antiken Götter, die das Schicksal der mythischen Tragödienheld*innen bestimmten, eine patriarchale Phalanx. Hera ist die Strippenzieherin des Konflikts um Medea, einzig um ihre verletzte Eitelkeit zu rächen – so weit ist die Große Göttin, die sie einst war, gefallen.
Die Götter agieren hinter der Szene, sie werden gefilmt und im Live-Stream auf die Bühnenwand projiziert. Die Unterstützerinnen der Medea können diese Götter „anrufen“, es wird vergeblich bleiben.
Die Unterstützerinnen finden ihren eigenen Weg. Sie entledigen sich der Göttermacht. Ihre Körperhandlung führt direkt in den Protest: die masochistische Aktion Medeas, die List zur Tötung der Braut mithilfe der eigenen Kinder – auf dem Höhepunkt vollzieht sich die Umkehr. Die pathogene Energie kehrt sich nicht länger gegen Medea selbst und ihresgleichen. Die Erinnerung an das Gebären hält die Tragödie vollends auf und lenkt das Geschehen in die Bahnen des Lebens.
Die Kinder werden nicht sterben. Und Medea selbst hat bereits Freunde aus dem Publikum und damit Aufnahme gefunden, eine Ausweisung der Verdächtigen, Überflüssigen lässt sich gegen den Widerstand der Bevölkerung nicht mehr machen.
Die Götter nun verzweifeln. Kein Mensch glaubt mehr an sie! Sie kommen aus ihrem Hinterzimmer auf die Bühne, durchbrechen die Papierwand ihrer Projektion und richten ihren Zorn gegeneinander, bringen sich selbst um oder töten einander – Showdown zur Musik „Stabat mater“ von Pergolesi. Hera ist die letzte, die stirbt.
Der Chor ist schon nach Hause gegangen, hat die Platzbesetzung für den nächsten Tag organisiert. Einkaufen? Kinderbetreuung? Wer kocht morgen? Lasst die Götter doch sterben!
So werden statt der 5 Tragödienakte nur 3 gespielt.
Der Lockdown im März unterbrach uns in der Schlussphase der Proben, und die geplante Premiere im April konnte nicht stattfinden. Als wir nach dem Sommer weiterproben konnten, mussten wir ein Hygiene-Konzept finden, das gleichzeitig ein überzeugendes ästhetisches Konzept war. Anfangs erschien das unmöglich. Wir wollten doch mit gutem Grund ein „physisches Chorstück“ zeigen!
Schließlich fanden wir eine neue Lösung: Die Götter sind nicht hinter der Bühne, sondern auf der Bühne, anfangs als Statuen, dann als Menschen im Büro. Alle Mitwirkenden, auch der Chor, befinden sich auf festen Positionen mit Abstand, der Text spielt wieder eine größere Rolle. Alle physischen Chorpassagen sind lediglich angedeutet oder umgearbeitet – das war ein bitterer Schnitt ins Konzept. Die Struktur der Gesellschaft in der Pandemie aber wird sichtbar gemacht durch das Mittel, das uns zugleich das Sprechen auf der Bühne ermöglicht: ein Rohrsystem, bei dem die Rohrenden an ein Mikrofon führen. Dieses „Rohrophon“ wird zum Klangkörper, percussiv, mysteriös … So wird die Gesellschaft, in der Medeas Fall wieder verhandelt wird, nun eine Gesellschaft in der Pandemie.
Der erneute Lockdown verhinderte auch das abschließende Proben dieser Version. Um trotzdem für alle Beteiligten einen guten Projektabschluss zu finden, entstand dieses Höressay
Es spielen: Bernhard Gaudian, Katrin Heinau, Artem Kirikuk, Toulou Maslahati, Ramona Olasz, Anna Röpke, Christian Schäfer, Ricky Strohecker.
Weitere Mitwirkende: Katharina Berres, Ana Kavalis, Jolika Sudermann-van den Berg, Dirk Zmarzly sowie Olga Heuser, Heike Praetor und Shelley Soffer
Idee und Leitung: Katrin Heinau
Musik/ Ton: Michael R. Schmitz
Bühne: Jan Brokof
Diese Produktion wird gefördert durch das Amt für Weiterbildung und Kultur Treptow-Köpenick/ Dezentrale Kulturarbeit. Vielen Dank dafür!